Alles zu viel
Thomas sagt, er habe alles. Er verstehe auch nicht, warum ausgerechnet er sich jetzt so schlapp fühle. Er habe keine Freude mehr. Das Arbeiten am Feld und im Stall falle ihm schwer. Der Kreislauf mache auch nicht mehr mit. Früher war er immer bei den Schnellsten. Zuhause tut er sich schwer, die gemeinsame Familienzeit als gute Zeit zu empfinden. Die Kinder würden ihm schnell auf die Nerven gehen, dann wäre er ungerecht mit ihnen. In der Nacht wird er munter, grübelt und kann dann schlecht einschlafen. Am Morgen käme er schlecht aus dem Bett und braucht lange, bis er in Schwung kommt. Mit seiner Frau würde er selten über seinen Kummer reden. Auch mit sonst niemandem. Er glaubt, das würde niemand verstehen: so ein nette Frau, die drei gesunden Kinder, der Hof mit dem erfolgreichen Betriebszweig. Und er müsse ja sowieso froh sein, dass es ihm so gut gehe. Er fühlt sich undankbar, unzufrieden und schämt sich. Er denkt darüber nach, ob denn das eine Depression sein könnte. Auf der Landwirtschaftskammer sieht in einem Prospekt die Telefonnummer von Lebensqualität Bauernhof, überlegt eine Weile und ruft dann an, mit Herzklopfen! Ist er jetzt schon so weit, dass er Hilfe von außen braucht?
Das Telefonat macht ihm Mut. Jemand hört einfach zu, so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Er hat einen Gesprächstermin ausgemacht. Beim ersten Gespräch fühlt er sich unsicher. Was soll er schon erzählen, es ist ja eh alles in Ordnung?
Plötzlich bricht es aber aus ihm heraus. Er weint heftig. Das erste Mal in seinem Leben. Die letzten Jahre waren anstrengend, mehrere Baustellen, immer viele Menschen die von ihm was wollen. Am anstrengendsten ist die Situation mit seinem Vater, dem er nie etwas recht machen kann. Seine Mutter starb schon früh, er war gerade erst einmal 19 Jahre. Das Musizieren hat er gelassen, weil er meint, es bleibe ihm keine Zeit. An seinem runden Geburtstag hat er von seinen Geschwistern einen Gutschein für ein Wochenende zu zweit bekommen. Er ist noch unbenützt.
Nach dem Redeschwall ist ihm erstmals leichter. Er spürt deutlich, dass er erschöpft ist. In kleinen Schritten versucht er nun, seine Situation anzupacken. Der erste Schritt war, sich einzugestehen, dass es ihm zu viel geworden ist. Er lernt langsam, die Signale der Überforderung früher zu erkennen, manchmal mit Rückschritten. Nicht seine Frau, sondern er spricht an, dass der Termin für das Wochenende zu zweit noch ausständig ist. Für den späten Herbst ist ein Termin fixiert.
Er kann nun mit seiner Frau darüber reden wie es ihm geht. Es gibt noch viel zu tun, Freundschaften wieder zu aktivieren, sich für das Musizieren wieder anzumelden. Vor allem aber, muss er aber konsequent in der Betriebsführung Dinge verbessern. Er erkennt, dass er technisch nicht immer am neuesten Stand sein muss. Außerdem versucht er, die Beziehung zu seinem Vater bewusst zu leben. Einerseits zeigt er ihm die Grenzen auf und andererseits lässt er ihn auch teilhaben an den Entwicklungen des Hofes.
Thomas ist froh, dass er es wieder wagt zu reden. Nichts ist schlimmer, meint er, als in seiner Gedanken und Gefühlswelt eingesperrt zu sein. Er wünscht vielen anderen Bäuerinnen und Bauern, dass sie den Mut finden, sich Hilfe zu holen. Jetzt spürt er, dass er selbst der Gestalter seiner Lebensqualität ist.
Bestimmt!