Vielfalt gestalten
Lebensqualität Bauernhof Tirol: Die bäuerlichen Lebenswelten mitgestalten.
Die zwölf Bäuerinnen, die das dritte Mal zum Bäuerinnen-/Unternehmerinnenstammtisch ihres Bezirkes zusammenkommen, sind aufgeregt. Für das heutige Treffen haben sie sich das Thema „Umgang mit Konflikten am Hof“ vorgenommen. Wenn man in den Raum schaut, zeigt sich ein buntes, äußerst lebendiges Bild von selbstbewussten Frauen. Sie kommen aus unterschiedlichen bäuerlichen Betrieben und haben vor allem das Bedürfnis, sich auszutauschen, Ideen zu erhalten, wie sie das Miteinander am Hof gestalten können. Es wird diskutiert und überlegt, was sie tun können, um sich selbst und gegenseitig zu stärken und die eigene Lebensqualität zu spüren. Sie wissen um den Zusammenhang von Lebenssinn, Balance der Kräfte und Beziehungen, die lebendig und unterstützend sind, um auch den beruflichen und betrieblichen Ansprüchen gewachsen zu sein. Sie fragen nach, sind offen und wertschätzend im Umgang miteinander. Sie planen Schritte zur Umsetzung für ihren Alltag. Beim nächsten Treffen wollen sie weiterarbeiten und den Schwerpunkt auf Versöhnung legen.
Der Stammtisch für die Bäuerinnen ist eines von mehreren Bildungsangeboten, das „Lebensqualität Bauernhof“ (LQB) initiiert hat.
Bei der von der Tiroler Bäuerinnenorganisation durchgeführten Mitgliederbefragung im Jahre 2003 wurde die Einrichtung einer psychosozialen Unterstützung für bäuerliche Familien in schwierigen Lebenssituationen gefordert. Die landwirtschaftliche Fachberatung der Landwirtschaftskammer Tirol sollte durch ein niederschwelliges Beratungs- und Bildungsangebot ergänzt werden. Die Bäuerinnen beobachteten, dass Zufriedenheit in betrieblicher und familiärer Hinsicht eng zusammenhängen. Wenn es irgendwo „Fehlentwicklungen“ gibt, dann tun sich die Frauen leichter, es anzusprechen.
Im März 2006 startet das Angebot. Es wurde auf zwei Ebenen angelegt: zum einen Bildung und Prävention zu Themen wie Hofübergabe/Hofübernahme, Zusammenleben der Generationen, Lebensbalance, Pflege usw. Das zweite Standbein ist Beratung zu zwischenmenschlichen Themen, die von Frauen und Männern und Familien genützt werden kann.
Die Überraschung war groß, dass vor allem die Beratung bei den Bäuerinnen und Bauern sofort angenommen wurde. Allen war bewusst, dass der Bedarf da ist, doch gab es eine große Unsicherheit, ob das Tabu, sich auf persönlicher Ebene professionell unterstützen zu lassen, gebrochen werden kann. So war der erste Kontakt bereits das am häufigsten angefragte Beratungsthema: das Zusammenleben in den Generationen. Es gibt großen Bedarf quer durch alle Altersgruppen, sowohl bei Männern als auch bei Frauen, zu Themen wie Partnerschaft, eigene Erkrankung, Überforderung, Pflege, Alkohol in der Familie.
Oft nur ein Anruf
Mit Ende des Jahres 2017 haben über 840 Familien oder Einzelpersonen in Tirol die Beratung bei Lebensqualität Bauernhof in Anspruch genommen. Manchmal genügt ein entlastendes Telefonat, manchmal braucht es Jahre, bis sich die Verhältnisse verbessern. In vielen Situationen hat sich, unterstützt durch die Beratung, eine neue Lebensqualität entwickeln können. Wenn Menschen erkennen, dass die Gestaltung der persönlichen und familiären Situation viel mit Nachdenken über die eigenen Möglichkeiten zur positiven Mitwirkung zu tun hat, dann sind die Chancen zur Veränderung äußerst befriedigend.
Zielklarheit: Mit dem zwar kleinen Referat Lebensqualität Bauernhof wird deutlich, dass es nicht mehr tabu sein darf, die zwischenmenschlichen und persönlichen Themen zu benennen und sich professionelle Hilfe von außen zu holen. Das Referat ist im Fachbereich Bildung und Beratung der Tiroler Landwirtschaftskammer angesiedelt und kooperiert eng mit den Bezirken und dem Ländlichen Fortbildungsinstitut (lfi) der Landwirtschaftskammer.
Einfach: Unbürokratisch, diskret, kostenlos und auf Wunsch anonym können sich Menschen psychosoziale Beratung holen. Die Beratung erfolgt vor allem in den Bezirkslandwirtschaftskammern.
Für manche Kunden ist es nicht einfach, im eigenen Bezirk eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Auch Fritz hat sich ein bisschen geschämt. Deshalb rief er an und bat um eine Beratung im angrenzen- den Bezirk. Die Bezirkskammern wissen um das heikle Thema und gehen mit den Anfragen unkompliziert um. Fritz ging erleichtert aus der Kammer. Er war stolz auf sich, dass er den Schritt getan hat, spürte, dass es auch im zwischenmenschlichen Bereich gute Unterstützung braucht. Er war auch ein bisschen beunruhigt, weil er plötzlich wusste, das ist ein großes Stück Arbeit, Dinge zu Hause so zu verändern, dass er nicht dauernd an den eigenen Grenzen verzweifelt.
Felsenfestes Anliegen: Dem Team Lebensqualität ist es wichtig, in Wertschätzung für die Öffnung und Stärkung von Menschen im bäuerlichen Umfeld zu wirken, um sie bei den Anforderungen des Lebens zu begleiten. Es macht Freude, mit den Menschen zu arbeiten, auch wenn das „bockige Tirolerische“ gar nicht so selten zu sehen ist.
Kombination Bildung und Beratung: Von Beginn an war klar, dass es eine enge Verbindung zwischen den Bereichen Prävention und Beratung braucht. Vor allem mit Bildung und Öffentlichkeitsarbeit werden Menschen erreicht, um sie zu sensibilisieren.
Individuelle Konzepte für die Familien: In den Jahren seit Entstehung von Lebensqualität Bauernhof kann beobachtet werden, dass es eine hohe Diskrepanz zwischen Vorstellungen zum Leben, wie es sein sollte, und den realen Lebensumständen auf den Höfen gibt. Fixe Normen, wie es zu sein habe, prallen auf uneinheitliche Ansprüche. Das Engagement von LQB soll die Betroffenen mobilisieren, die Wert- schätzung für anders Denkende wiederzuerlangen.
Josef war sehr unzufrieden mit Peter, der gemeinsam mit seiner „Stadtlerin“ den Hof übernommen hatte. Er beklagt, dass der Junge gar nicht so tut, wie es sich gehört. Da könne nichts Gutes herauskommen. Doch zwischen Josef und Peter liegt viel Zeit, viel Entwicklung, die „Stadtlerin“ ist eine Frau, die in Absprache mit ihrem Peter gerne noch erfolgreich ihren Beruf ausüben will. Wenn die Kinder kommen, dann wollen sie es neu entscheiden. Peter und seine Freundin haben es verabsäumt, den Eltern ihre Absichten zu berichten. Ganz oft geht es nicht ums Fragen, ob man etwas darf, sondern sich gegenseitig informieren, was am Hof aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit auch notwendig ist.
Wirtschaftlicher Druck
Der Druck durch enge wirtschaftliche und arbeitsbelastungstechnische Herausforderungen nimmt den Familien mitunter die Luft zur erstrebenswerten Lebensqualität. Investitionen werden getätigt, ohne gründlich und familiendemokratisch zu planen. Zu beachten ist auch, dass in den bäuerlichen Familien der Wunsch wächst nach gemeinsamer Zeit, nach einer Verständigung untereinander, nach Modellen, die das Zusammenleben der Generationen erleichtern. Die Middle-Ager (50–65) wissen darum, dass die Jungen Verantwortung übernehmen wollen und auch können. Diese wiederum schätzen die Kraft und das Wissen der Älteren. In Großfamilien wird zunehmend versucht, der Vielfalt der Fa- milienmodelle gerecht zu werden und sich auch zu unterstützen. Die jungen Frauen, die auf die Höfe kommen, müssen noch stärker das Gefühl bekommen, dass ihre Art zu leben genauso in Ordnung ist. Sie brauchen eine offene Aufnahme, damit sie ihr Potenzial einbringen können. Das gilt genauso für die die jungen Männer.
Über Bildungsangebote und individuelle Beratung will Lebensqualität Bauernhof Menschen ermutigen, sich Raum zu schaffen, ihre Lebensräume mit Freude, guten Begegnungen und emotionaler Kraft zu gestalten.
Dieser Artikel erscheint im neuen Reimmichl-Kalender 2019.
Für unsere LeserInnen vorab schon jetzt 🙂